Robin Norwood
Wenn Frauen zu sehr lieben
- Die heimliche Sucht, gebraucht zu werden

„Das weißt Du doch alles schon.“ Mit diesen Worten verkaufte mir mein Lieblingsbuchhändler dieses Buch.
In der Tat, in der letzten Zeit hatte ich viele Bücher zum Thema Lebens- und Beziehungskrisen, Philosophie und Psychologie gelesen – aus gegebenem Anlass...

Aber es gibt eben immer wieder Bücher, die einem Sachverhalte buchstäblich näher bringen. Die Hintergründe beleuchten und Zusammenhänge erklären. Worauf sich dann ein richtiger Aha!-Effekt einstellt.

Wie bei diesem Buch: Norwood erläutert anhand von Fallstudien ihre Theorie, dass manche Frauen durch bestimmte Faktoren in die Lage versetzt werden, ihre eigene Person soweit hintan zu stellen, dass sie jahre-, ja jahrzehntelang unermüdlich für andere da sind, sich für andere zerreißen, aber nicht wirklich für ihre eigenen Interessen. Sie sind dabei im guten Glauben, denjenigen, für den sie dies tun, zu lieben, werden aber nicht glücklich dabei, sondern fühlen sich irgendwie fremdbestimmt und zerreiben sich dabei.

Norwood erklärt, dass es sich hierbei um ein suchtartiges Verhalten handelt. Die Sucht, gebraucht, geliebt, anerkannt zu werden. Die Symptome und Auswirkungen sind ähnlich: Leugnen, ein Problem zu haben, zwanghaftes Wiederholen von Verhaltensweisen, um sich zumindest „sicher“ zu fühlen, Handeln gegen den eigenen gesunden Menschenverstand...
Auch die Auswirkungen können ähnlich sein, bis hin zu körperlichen Symptomen, die wohl allzu oft mit Beruhigungsmitteln statt mit Gesprächen behandelt werden.

Die Gründe für dieses Verhalten liegen wohl häufig in der Familiengeschichte der betroffenen Frauen begründet. Sie wurden als „braves Mädchen“ erzogen, ihnen wurde ein schlechtes Gewissen anerzogen; verbunden mit kindlichen Vorstellungen kann daraus unbewusst ein Weltbild entstehen, das Frauen noch wie vor Hunderten von Jahren Entsagung, Erduldung und Aufopferungsbereitschaft als Kardinalstugend und, schlimmer noch, Idealbild der Liebe ausmalt. Sie bekommen das Gefühl, dass sie selbst nur etwas wert sind, nur liebenswert sind, wenn sie andere bemuttern, umsorgen, sich für sie aufopfern...

In diesem Buch wird auch angesprochen (ein sehr interessanter Gedanke, finde ich), dass die Vorstellungen von Liebe, die Werbung, Liedtexte und Filme vermitteln, tatsächlich praktisch ausnahmslos kaputte Beziehungstypen darstellen. Sequenzen, in denen jemand leidet, weil der andere nicht da ist, ihm weh tut, in denen jemand eifersüchtig ist... aber sehr selten eine Beziehung, wie sie sich wohl praktisch jeder wünscht: gleichwertige Partner, die sich trotz und wegen ihrer Macken akzeptieren, schätzen und respektieren. Das mag auf die Dauer langweiliger sein (wirklich?) als Beziehungen, wo ständig die Fetzen fliegen, aber auf die Dauer hält letztere Beziehung niemand lange aus. Viele Frauen geraten in einen Kreislauf; „Immer gerate ich an die falschen Männer…“ Natürlich, denn die Muster wurden nicht hinterfragt.

Wie bei der Entziehung von einer Droge muss am Anfang der Wille stehen, bei sich selbst anzufangen. Und wie bei jener Entziehung gibt es Probleme. Leicht driftet frau dann wieder in die alten Verhaltensweisen ab, um ihre Angst, ihre Schmerzen zu betäuben, säuft, raucht oder futtert und bemuttert, statt die eigenen Gefühle und Wünsche zu erforschen und danach zu handeln...
Diese Schmerzen gehören aber zum Genesungsprozess; sie sind unvermeidbar auf dem Weg zum eigenständigen Individuum, das selbstbewusst und positiv egoistisch ist, und vor allem im Selbstwertgefühl weitestgehend unabhängig von der Anerkennung durch Andere.

Wow. Das war lang.
Ich hätte natürlich auch einfach schreiben können: LESEN!!!
Aber das hätte meinen Eindruck nicht annähernd wiedergegeben ;-)

Erschienen bei Rowohlt TB, ISBN-13: 978-3-499-26626-3
4,95 EUR für 352 Seiten inkl. Stichwortverzeichnis und Adressen

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Rezensiert 30.08.2006
© Claudia Heldt. Zuletzt aktualisiert: 27.09.2008